Agilisten sind keine Aliens: Der erste Kontakt als Scrum-Master-Praktikantin
· AnaIch habe also die Zertifizierung zum Scrum Master in der Tasche. Dafür habe ich mich durch das zähe Buch „Software in 30 Tagen“ gequält, auf Deutsch und auf Englisch, habe mir Video-Vorlesungen reingezogen und mir in den Live-Tutorien via GoToMeeting mit Dozentin und Mitstudierenden im virtual classroom teils zermürbende Diskussionen geliefert. Das alles auf der Suche nach Antworten, wie der heilige Scrum Guide richtig interpretiert und auf diffizile Alltagsproblematiken angewendet werden kann. Im Sinne der Erfinder und der Scrumphilosophie, versteht sich. Und natürlich auch, um den Zertifizierungstest erfolgreich zu bestehen.
Da stehe ich also. Darf mich Professional Scrum Master nennen. Und doch, ich habe keine Ahnung, wie die tägliche Arbeit aussieht. (Und nach fünf Wochen als Scrum Master bei jobvalley kann ich sagen, ich hatte WIRKLICH keine Ahnung!)
Erste Erfahrungen sammeln – aber wie?
Kurz vor meiner Zertifizierung habe ich den Kölner Scrumtisch besucht. Dort waren ausdrücklich auch Leute willkommen, die totale Neulinge sind. Nur deshalb habe ich mich hingetraut. Ich wurde positiv überrascht. Alle waren freundlich und offen, interessiert und verständnisvoll. Im Open-Space-Format wurden diverse Dinge besprochen. Von „Draw a Toast“ über „How to become a good Scrum Master“ bis hin zu „Troubles with PO“. Manche Themen waren allgemein gehalten, manche Runden gingen ins Detail und zeigten mir, mit was für Problemen Scrum Master wirklich zu tun haben. So unterschiedlich Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Probleme, die in Teams auftreten können.
Nach dem Besuch war ich infiziert. Ich wollte mehr erfahren, mehr Erfahrung sammeln. Nur wie? Ich hatte zwar die Zertifizierung, aber ohne praktisches Wissen traute ich mir nicht zu, mich auf eine Stelle zu bewerben. Ein Praktikum schien mir da eine gute Lösung zu sein. Also sprach ich Menschen an, die mir behilflich sein konnten. Ich habe viele Kontakte geknüpft. Habe Hilfe in verschiedenen Formen bekommen. Aber letztendlich bekam ich die Möglichkeit, ein richtiges Praktikum zu machen.
Am 1. März war mein erster Tag als Praktikantin bei jobvalley. Ich darf mehrere Wochen den Scrum Master Björn bei seiner Arbeit begleiten, ihm über die Schulter schauen und mein erstes eigenes Team selbst betreuen. Das wird meine erste praktische Erfahrung als Scrum Master.
Empowerment als Firmenkultur
Beruflich komme ich aus dem Finance-Bereich. Ganz klassisch operativ mit hierarchischen Strukturen. Das Gefälle der Hierarchiestufen war in den verschiedenen Firmen, in denen ich bisher gearbeitet habe, unterschiedlich. Von steil bis flach. In den kleineren Firmen konnte es sein, dass eine Kultur der Selbstverantwortung herrschte, in der man seinen gesunden Menschenverstand einfließen lassen konnte. Es gab aber auch Firmen, kleine wie auch große, wo eine solche Kultur mehr als unwillkommen war.
In einem solchen Umfeld habe ich Kollegen als resigniert und frustriert erlebt. Manche hatten sich zwar in ihrer Arbeitsumgebung eingerichtet, fühlten sich eigentlich ganz wohl, hatten dort Freundschaften geknüpft, kamen aber mit Veränderungen nur sehr schlecht zurecht. Andere nahmen eine ganz andere Haltung ein, man konnte ihnen gar nichts mehr recht machen, sie hatten sich gegen alles verschlossen. Was alle gemeinsam hatten: Niemand ergriff Eigeninitiative, um etwas zu ändern. Ich selbst fühlte mich in solchen Organisationen nicht wohl, mir fehlte ganz schlicht das „Behandle einen erwachsenen Menschen wie einen erwachsenen Menschen“.
In einer der letzten Firmen habe ich zum ersten Mal erlebt, dass Empowerment zur Firmenkultur gehört. Es war gewünscht, dass sich jeder Einzelne mit seinen Ideen, seiner Leistung einbringt. Wertschätzung zu erfahren und Prozesse mitgestalten zu dürfen, ist eine gute Erfahrung gewesen. Zu dieser Zeit begann die Softwareentwicklungsabteilung auf Scrum umzustellen. Aber was Scrum genau ist, das habe ich erst viel später erfahren.
Nur wenige Firmen leben den Wandel durch alle Abteilungen
Da ich mir für mich persönlich nicht mehr vorstellen konnte, in einer Firma mit klassischer Aufbauorganisation zu arbeiten, war eigentlich auch schon der Grundstein gelegt, mich beruflich neu zu orientieren. Als Finanzler hat man nur sehr wenig Möglichkeiten, in einem wirklich agilen Umfeld zu arbeiten. Nur wenige Firmen leben den Wandel hin zu agilen Arbeitsweisen konsequent durch alle Abteilungen hindurch.
In der Softwareentwicklung dagegen ist die Chance ziemlich hoch, dass agil oder sogar mit Scrum gearbeitet wird. Coden kann ich nicht, aber als Scrum Master muss ich begeisterungsfähig sein, Lust haben, mit Menschen zu arbeiten, fühlen, wo Missverständnisse und Unstimmigkeiten sind, die es auszuräumen gilt. Einen kleinen Teil der Theorie habe ich in Form der Zertifizierung. Jetzt muss sich nur noch zeigen, wie die Praxis in Wirklichkeit aussieht.